Arzneimittelprüfungen an Heimkindern

Arzneimittelprüfungen an Heimkindern

von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland

unter besonderer Berücksichtigung der Neuroleptika

sowie am Beispiel der

Rotenburger Anstalten der Inneren Mission

Inaugural-Dissertation
zur Erlangung des Doktorgrades
der Naturwissenschaften
(Dr. rer. nat.)
der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät
der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
vorgelegt von
Sylvia Wagner
aus Essen
Düsseldorf, März 2019

Zusammenfassung
Arzneimittelprüfungen an Heimkindern von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Neuroleptika sowie am Beispiel der Rotenburger Anstalten der Inneren Mission

Diese Arbeit untersucht, ob es außer einer bis dahin bekannten Prüfung eines Neuroleptikums in dem untersuchten Zeitraum (1949–1975) weitere Prüfungen von Arzneimitteln dieser Substanzklasse an Heimkindern gegeben hat. Eine wichtige Methode war dabei die systematische Untersuchung medizinischer Fachzeitschriften nach Publikationen über derartige Prüfungen. Darüber hinaus sollten am Beispiel der Rotenburger Anstalten der Inneren Mission, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, die institutionellen Bedingungen etwaiger Arzneimittelprüfungen analysiert werden.

Die Ergebnisse dieser Arbeit bestätigen, dass in Heimen der damaligen Zeit an Heranwachsenden weitere Neuroleptika geprüft wurden. In Rotenburg ergaben die Nachforschungen, dass dort zudem Präparate gegen Bettnässen, zur Gewichtsreduktion, Triebdämpfung und ein Präparat, das den Hirnstoffwechsel aktivieren sollte, getestet wurden. Hinweise darauf finden sich zum Teil direkt in den Akten der betroffenen Bewohner, aber auch in der Publikation einer Prüfung sowie in Dokumenten aus dem Archiv des Unternehmens Merck KGaA. Anhand von Fallbeispielen werden die Umstände der medikamentösen Sedierung der Heimbewohner und der Prüfung von Präparaten an ihnen aufgezeigt.

Arzneimittelprüfungen fanden sowohl in staatlichen als auch in konfessionellen (katholischen und diakonischen) Einrichtungen statt.

Die Prüfungen wurden in den zeithistorischen, ethischen, rechtlichen und soziologischen Kontext eingeordnet. Auf der einen Seite sind wirtschaftliche Interessen der Unternehmen an den Untersuchungen zu berücksichtigen, auf der anderen Seite diente der Einsatz sedierender Präparate der Aufrechterhaltung der Strukturen der Einrichtungen, die als Totale Institutionen im Sinne des Soziologen Erving Goffman gesehen werden können. Ein derart motivierter Einsatz der Präparate ohne eine medizinische Indikation wird als „soziale Medikation“ definiert.

Eine nachgewiesene sedierende Wirkung der Neuroleptika ist in Bezug auf eine medizinisch-pädagogische Gesamtwirkung, die „Verbreiterung der pädagogischen 7 Angriffsfläche und Schaffung der Voraussetzung für eine gezielte Psychotherapie“, generalisiert worden. So lieferten die Prüfungen eine wissenschaftliche Grundlage zur Verabreichung der Präparate und übten damit eine „Türöffnerfunktion“ zum vermehrten Einsatz in den Einrichtungen aus.

Unter anderem widersprechen die Versuche aufgrund offensichtlich fehlender Einwilligungen von gesetzlichen Vertretern oder Sorgeberechtigten der Kinder und Jugendlichen ethischen und rechtlichen Standards der damaligen Zeit. Auch scheint es keine Nutzen-Risiko-Bewertungen gegeben zu haben. Absehbare, akute Nebenwirkungen sind aufgetreten. Neben den zunächst bekannt gewordenen psychischen, physischen und sexuellen Gewaltformen in der Heimerziehung tritt hier mit der medikamentösen „Ruhigstellung“ und der Nutzung der Heimbewohner als Versuchsobjekte eine weitere Gewaltform in Erscheinung: die medikamentöse bzw. medizinische Gewalt. Möglich waren die Prüfungen aufgrund eines gesellschaftlichen Diskurses zur Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen, vor dem Hintergrund eines virulenten eugenischen Verständnisses.

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