Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975

Die Autorin hat Pharmazie an der Universität Münster studiert und mit diesem Buch im Fach Geschichte der Pharmazie promoviert. Sie arbeitet freiberuflich als Pharmaziehistorikerin.

Eine Rezension von H. Dettinger

Die Autorin, Dr. Sylvia Wagner, gibt einen Rückblick auf die Heime der noch relativ jungen Bundesrepublik und beschreibt sie als in sich geschlossene Systeme, als „totale Institutionen“, als einen „anderen Ort“. Die Heime dienten der „Verwahrung“ und Disziplinierung“ von „verwahrlosten“ Kindern und Jugendlichen.

Totale Institutionen verfolgen nur scheinbar gesellschaftlich gebilligte Ziele wie Erziehung, Ausbildung, medizinische oder psychiatrische Behandlung oder religiöse Reinigung. Der eigentliche, versteckte Zweck solcher Institutionen ist jedoch die Überwachung einer großen Zahl von Menschen.

Um diese Ziele möglichst reibungslos, kosten- und personalsparend zu erreichen, müssen die „Insassen“ der totalen Institution durch psychische, physische und sexuelle Gewalt angepasst werden. Hinzu kommt eine weitere Gewalt, denen die Kinder und Jugendliche ausgesetzt waren: die medikamentöse Gewalt.

11 Prüfungen mit Neuroleptika und 2 Prüfungen mit Medikamenten anderer Gruppen
Die Pharmaziehistorikerin Sylvia Wagner setzt genau hier an: Akribisch untersuchte sie welche Arzneimittel zu welchem Zweck eingesetzt wurden, beschreibt die Entwicklung und die Wirkungsweisen derselben. Ihre Recherchen ergaben, dass es über die bekannte (und im Abschlussbericht des „Runden Tisches Heimerziehung“ erwähnte) Arzneimittelprüfung im Heim Neu-Düsselthal weitere Prüfungen an Heimkindern in den Jahren 1949 bis 1975 gegeben hat. Auf elf weitere Prüfungen mit Neuroleptika und zwei Prüfungen mit Medikamenten anderer Gruppen geht sie in ihrem Buch näher ein, erläutert aber auch, dass eine „systematische Suche nach Neuroleptika-Publikationen (in denen Forscher ihre Ergebnisse veröffentlichen, HD) (…) sich schwierig (gestalte), da diese in der biomedizischen Datenbank medline nicht komplett einheitlich verschlagwortet sind. Darüber hinaus wurden nicht sämtliche im Untersuchungszeitraum durchgeführten Prüfungen publiziert“ und geht davon aus, „dass es neben den hier aufgeführten noch weitere Arzneimittelprüfungen mit Neuroleptika gab.“

Sehr zu Recht beschreibt sie ein „bedrückendes Bild, das sich aus einer medizinisch nicht indizierten Ruhigstellung von Kindern und Jugendlichen zum Teil über Jahre und mit deutlich erhöhten Psychopharmaka-Dosen, der Anwendung triebdämpfender Mittel und der Nutzung von Heimkindern für Arzneimittelprüfungen zusammensetzt.

Objekte medizinischer Forschung
Die dergestalt behandelten Kinder und Jugendlichen wurden zu Objekten medizinischer Forschung unter Missachtung rechtlicher und ethischer Bestimmungen, einem möglichst reibungslosen und kostengünstigen Ablauf des Heimalltages untergeordnet. Möglich war dies auf Grund eines in den damaligen Jahren zweifellos virulenten eugenischen Verständnisses. Eine zusätzliche wissenschaftliche Legitimation bekam der umfangreiche Einsatz von Neuroleptika durch die Arzneimittelprüfungen.

Erschreckend und deprimierend ist für mich persönlich die Sprache, derer sich die Mediziner teilweise bedienten: So schrieben sie von „Krankengut“ oder „Patientengut“, diskutierten die „systematische Durschsuchung“ der Hirne von Verstorbenen, die lange unter Neuroleptika gestanden hatten – auch wenn nicht bekannt wurde, ob es dazu kam. Ebenso erschütternd finde ich die Art der „Diagnosen“ ihrer jungen Patient*innen: es dominieren schwammige, schwer greifbare Beschreibungen (feindlich, einsilbig, stammt aus zerrütteter Familie, körperliches Befinden mangelhaft, verdrießlich). Zwar dozieren die Autoren verschiedener Publikationen über Prüfungen häufig über „Schwachsinn“, aber es wird kaum ein eindeutiges Krankheitsbild beschrieben, auf das ein bestimmtes Medikament anzuwenden sei. Vielmehr wird Bezug genommen auf eine Auflistung von Merkmalen: Indolent Passive, faule Genießer, sture Eigensinnige, kopflos Widerstrebende, ständig Erstaunte, verstockte Duckmäuser, heimtückische Schlaue, treuherzig Aufdringliche, selbstsichere Besserwisser, prahlerische Großsprecher, chronisch Beleidigte, aggressive Losschimpfer.

Deutlich wird hierbei, dass die jungen und jugendlichen Heimkinder Pharmaka bekamen, um sich (als „Neue“) besser in die Gruppe zu integrieren, um ruhig gestellt zu werden (so sollten sie die Nachtruhe nicht stören), um einen Mangel an Anpassungsfähigkeit, Disziplin, Reizbarkeit und Konzentration zu überwinden.

Schwer zu ertragen fand ich die Beschreibungen des Lebensweges einiger junger Heimkinder, die Veränderungen durch die teilweise über Jahre gegebenen Medikamente, die bitteren weil aussichtslosen „Karrieren“ die Sylvia Wagner beschreibt: Säuglingsheim, Kinderheim, Heim für Kinder mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen, Aufbewahrung in der Psychiatrie.

Kein rechtsfreier Raum
Die Arzneimittelversuche fanden keineswegs in einem rechtsfreien Raum statt. Zu berücksichtigen wären gewesen die „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche“ von 1931, das Strafgesetzbuch sowie das Grundgesetz der BRD. Demnach hätten die Versuche nur nach einer Einwilligung mit vorheriger Aufklärung der Betroffenen bzw. der Eltern oder gesetzlichen Vertreter stattfinden dürfen. Zudem hätte vor Versuchsbeginn eine Nutzen-Risiko-Bewertung der Versuche erfolgen müssen. Beides hat es offenbar nicht gegeben. Auch entsprachen die Versuche nicht den ethischen und moralischen Grundsätzen der Zeit.

Fazit:
Man muss „das Fortbestehen des Menschenbilder der ,psychopathischen Minderwertigkeit‘ und des in der Bevölkerung verbreiteten Dispositivs der ,Verwahrlosung‘ sehen. Ohne diese Tradierung wären die Prüfungen, wie insgesamt der menschenverachtende Umgang mit den Heimkindern in dem hier untersuchten Zeitraum, zweifelsfrei nicht möglich gewesen.“

„Möglich wurde dies durch den gesellschaftlichen Diskurs zur Verwahrlosung. Heimkinder waren ,die Anderen‘, die ,Gemeinschaftsfremden‘, denen nicht die gleiche Empathie entgegengebracht wurde wie vertrauten Menschen. Das Klima der ,Totalen Institution‘ in den damaligen Heimen war ein Nährboden für Gewaltexzesse gleich welcher Art. Dies betraf sowohl konfessionelle wie staatliche Einrichtungen.“

Hier endlich Verantwortung zu übernehmen, ist die Pflicht aller Beteiligten.

Das Buch ist erhältlich im Mabuse-Verlag oder bei Amazon

Lesen Sie hier die Stellungnahme des Vereins ehemalige Heimkinder e.V. zu diesem Thema