Sylvia Wagner / Burkhard Wiebel
„Verschickungskinder“ – Einsatz sedierender
Arzneimittel und Arzneimittelprüfungen. Ein
Forschungsansatz
Einführung
In der Bundesrepublik Deutschland wurden vor allem in den 1950er
bis 1970er Jahren Klein- und Schulkinder sowie Jugendliche aufgrund ärztlicher Überweisungen in Kindererholungsheime und Kinderheilstätten „verschickt“.
Auf Initiative der Sonderpädagogik-Dozentin und Publizistin Anja Röhl (*1955) fand im November 2019 ein erster Kongress ehemaliger „Verschickungskinder“ auf Sylt statt.
Röhl hatte schon einige Jahre zuvor damit begonnen, auf ihrer Internetseite Berichte zu sammeln und ehemalige Opfer miteinander zu vernetzen.
Auf der Seite berichten hunderte Betroffene über Strafen wie Prügel, Isolation und eiskalte Duschen, aber auch über sexuelle Gewalt, ungenießbares Essen, Zwangsfütterungen und den Zwang, Erbrochenes aufessen zu müssen. In Anbetracht der großen Resonanz organisierte Röhl den Kongress auf Sylt, wo die ca. 70 Anwesenden die „Initiative Verschickungskinder“ gründeten. Als Ziele der Initiative gaben sie an: „Öffentliche Aufmerksamkeit, einen Forderungskatalog entwickeln und verabschieden, Beginn des Aufbaus einer arbeitsfähigen Organisationsstruktur der Initiative Verschickungskinder, sowie das Anschieben einer selbst bestimmten Forschung“.
Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte dieser „Verschickungen“, gibt es bislang offensichtlich nicht. Da auf der Internetseite Betroffene zudem von einer medizinisch nicht indizierten Verabreichung von Arzneimitteln berichtet hatten, wurde auch diese Problematik und darüber hinaus die Thematik etwaiger Arzneimittelprüfungen auf dem Kongress erörtert.
Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, inwiefern es solche medikamentösen Praktiken in den Einrichtungen der damaligen Zeit gegeben hat, das heißt es wird Hinweisen auf den Einsatz medizinisch nicht indizierter Arzneimittel, vor allem Sedativa (Beruhigungsmittel),
sowie auf durchgeführte Arzneimittelprüfungen bei Verschickungskindern nachgegangen. Basierend auf einer historischen Kontextualisierung des Phänomens Verschickung werden die Ergebnisse in einen ethischen und rechtlichen Kontext eingeordnet. Da der Umgang mit
den Verschickungskindern einige Parallelen zum Umgang mit Heimkindern der damaligen Zeit aufzuweisen scheint, soll eine vergleichende Betrachtung erfolgen. Es werden, orientiert an dem, was über den Einsatz von Arzneimitteln und deren Prüfung an Heimkindern der damaligen Zeit erforscht ist, erste Erklärungsansätze formuliert und sozialhistorisch abgeleitet. Arzneimittelprüfungen an Heimkindern wurden erstmals 2016 in einem umfassenderen wissenschaftlichen Rahmen thematisiert und öffentlich wahrgenommen.